Diese besondere Form des emotionalen und leiblichen Ausdrucks, der mit keinem Standardtanz verglichen werden kann, steht für traurige Melancholie ebenso wie für hingebungsvolle Leidenschaft. Das Erklärt sich mitunter aus der Herkunftsgeschichte, jedoch auch aus der speziellen Philosophie und Psychologie des argentinischen Tangos.
In ihrem faszinierenden Buch „Tango – Die einende Kraft des tanzenden Eros" beschreiben Ralf Sartori und Petra Steidl diesen einzigartigen Tanz als eine Kalligraphie des Herzens. Den Autoren gelingt es in beeindruckender Form die Besonderheiten des argentinischen Tangos philosophisch und psychologisch zu beschreiben.
Das Tangopaar taucht zwar in sein ganz eigenes metaphysisches Universum ein, teilt diese Erfahrung aber mit all den anderen Tänzern, mit denen es gemeinsam den Salon bildet. Mann und Frau sorgen dafür, die eigene Bewegung in einer Weise zu gestalten, daß sie die Bewegungsfreiheit des Gegenübers, bei maximal möglicher Nähe, nicht beeinträchtigen. Zwei selbständige Menschen verbinden sich zu einem Paar, indem beide Ebenen gewahrt bleiben, nämlich die des autonomen Einzelnen sowie jene des Paares, wobei beide Seiten einander bedürfen, anstatt sich, wie im Leben so oft verbreitet, gegenseitig beschädigen. Im Tango findet diese harmonische Synthese idealtypischen Ausdruck.
Die Führung im Tango ist sehr subtil. Die Schritte sind nicht das eigentliche Problem, sondern in ihrem Grundwesen schon dessen Lösung, da der Tanz im wesentlichen von den miteinander verbundenen Oberkörpern, aus dem Dialog der Achsen, seinen Ausgang nimmt. Die Bahnen des Körpers werden durch die Beine und Füße lediglich auf den Boden übertragen. Ähnlich der Kalligraphie, wo die Schreiblinien durch die feste Achse eines stabilen Federhalters in präziser Eleganz zu Papier gebracht werden, lassen sich durch die stabile Achse der Tänzerin die von ihm geführten Oberkörperbewegungen exakt auf ihre Beine übertragen, welche die Bewegung lediglich noch auszuformen brauchen. Mann und Frau sollten ihre Linien so auf den Boden zeichnen, als würde dieser ersatzeshalber die Liebkosungen erhalten, die eigentlich für den Partner bestimmt sind. Die Beziehung zum Boden ist im Tango zärtlich. So spricht man in Argentinien von der Art und Weise, wie man in diesem Tanz die Schritte setzt, „es como cariciar la tierra“ (Es ist, wie den Boden zärtlich zu streicheln). Die Füße scheinen im Intervall von Verzögern und Beschleunigen, dicht über den Boden hinweggleitend, diesen zu berühren. Doch läßt sich dabei kein Geräusch vernehmen, da es im Tango kein Schleifen gibt.
Der Moment des Aufsetzens auf den Boden ist in der Bewegung nicht höher zu bewerten als jedes andere Atom im ganzen Bewegungsfluss. Der Geist sollte die gesamte Bewegung in jedem Augenblick völlig ausfüllen, wie guter Wein ein schönes Gefäß. Er sollte wahrnehmend begleiten und behutsam einwirken, ohne die Harmonie des Ablaufes durch äußeres Tun zu beeinträchtigen. Der Weg ist das Ziel, nicht einzelne Schritte. Das heißt: Der Weg von A nach B steht im Vordergrund und nicht A oder B. Nur das gewährleistet eine hohe Qualität von A und B. Ein Ziel in der Tanzbewegung ist, diese inhaltlich maximal zu verdichten. Die Zahl der Bewegungspunkte, die wir wahrnehmen, steigt an. Wir gehen immer mehr in die Tiefe; und zwischen zwei Punkten, die wir zuvor hintereinander, modellhaft gesprochen, wahrgenommen haben, spüren wir noch weitere. Es ist, wie wenn wir nachts in den Sternenhimmel schauen. Zuerst sehen wir nur einige Sterne. Doch je länger wir unsere Aufmerksamkeit auf eine Stelle richten, um so mehr Sterne werden für uns sichtbar. Wir füllen die Bewegung zunehmend nach innen aus und dringen in sie ein. Es ist, wie die Bewegung zu schmecken, sie auf der Zunge zergehen zu lassen. Unsere Bildauflösung wächst dabei immer mehr, entsprechend der Zunahme der Kapazität unserer Wahrnehmung, die wir im Tango schulen. Neben dieser Verdichtung der Kommunikation zwischen Geist und Körper vertiefen wir auch die Kommunikation mit unserem Tanzpartner und die Wahrnehmung des Raumes sowie der anderen Paare.
Jedes Zuviel an Berechnung zerstört den Zauber der Unmittelbarkeit, der der Verbundenheit miteinander entwächst. Und genau um diese Berechnung geht es: Wir denken im Tango nicht über die Form nach, ebenso wenig, wie wir über den geeigneten Zeitpunkt der Bewegung nachdenken. Es ist nicht so, dass wir erst denken und uns dann bewegen. Das komplexe Zusammenspiel zwischen Mann und Frau funktioniert nur durch feines Erspüren unter der Führung der Intuition und instinktiver Berücksichtigung aller Wahrnehmungen. Ein angestrebter Zustand im Tango, ebenso wie in den Kampfkünsten, in denen sich der Geist des Zen ausdrückt, ist die Einheit zwischen Geist, Körper und Technik. Von dieser Einheit ausgehend, wird auf der nächsten Ebene die Einheit von Mann und Frau, auf der Grundlage maximaler Differenzierung in den Rollen, möglich. Wenn das Denken führt und nicht die Intuition, entsteht ein Moment des Abwartens, wodurch uns der Fluss des realen Geschehens überholt. In einem Zen Koan drückt sich diese hellwache, aber meditativ in sich ruhende Geistesverfassung, welche für die Kampfkünste, wie auch für den Tango von Bedeutung ist, in einem kurzen und treffenden Bild aus:
Das Bild des Mondes im Fluss ist immer in Bewegung.
Doch der Mond ist da und er verschwindet nicht.
Er bleibt und er bewegt sich doch.
Dieser Zen Koan beschreibt den unbewegt in sich ruhenden Geist in Bewegung. Und schon wieder haben wir es mit einem Paradox zu tun, zumindest mit einem scheinbaren. Der Fluss symbolisiert sowohl die Zeit als auch die körperliche Bewegung. Der an sich unbewegte Mond steht für den still im Augenblick verweilenden Geist. Er bewegt sich nur scheinbar, dort wo er sich im Fluss spiegelt. Doch der Mond haftet nicht am Fluss an. Denn der Fluss ist keinen Augenblick der gleiche. Genauso wenig haftet im Tanz unser Geist an vergehenden Augenblicken an. Sonst könnte er nicht mehr in der Gegenwart sein. Er verweilt stets unbewegt im gerade gegenwärtigen Augenblick. So bleibt er in jedem Moment frisch und im Kontakt mit der lebendigen Realität der unentwegt fließenden Augenblicke.
Tango vom Rio de la Plata ist weder genormt noch vorhersehbar. Keine zwei Tangos sind also gleich, da er, wesensgemäß, immer einen lebendigen Dialog darstellt, auf der Grundlage einer hochdifferenzierten nonverbalen Sprache mit eigener Grammatik, reichem Vokabular und großer Silbenvielfalt. Die Form, in der dieses Gespräch eingebettet wird, ist ein fein synchronisiertes Miteinander-Gehen bei inniger Umarmung, in einem fließenden, stabilen und gut geerdeten Bewegungsgleichgewicht beider Tanzenden. Tango bedeutet daher nicht Verschmelzung, sondern Vereinigung zweier zentrierter Wesen mit jeweils eigener Achse, die in größtmöglicher Achtsamkeit und Freiheit größtmögliche Nähe teilen, auf der Basis komplementärer Rollen, von Führen und Folgen. Dabei ist zu beachten, daß eine jede dieser Rollen ihren Gegenpart auf einer tieferen Ebene wiederum in sich selbst trägt. Nur wer sich hingibt, kann Führen; und nur wer die Impulse aktiv empfängt und umsetzt, ist im Tango auch fähig zu folgen. Dabei kennt der Tango keinerlei vorgefaßte Schablonen und ist so wenig planbar wie ein echtes Gespräch.
Nicole Nau-Klapwijk beschreibt in ihrem Buch „Tango Dimensionen“ den faszinierenden Aspekt des Tanzens der Pause.
Der Tango ist wohl der einzige Tanz, in dem die Nichtbewegung Teil des Tanzes ist. Der Moment, an dem das Paar scheinbar stillsteht. In den Worten des milonguero Gerardo Portalea: "Hay que bailar los silencios. Hay que bailar los violines. Aunque no existan." (Man muss die Stille tanzen. Und die Violinen. Auch wenn es sie nicht gibt.) Die Entdeckung der Pause ist ein wichtiger Aspekt der Dynamik. Bis ich die Pause im Tango entdeckte, war Tanz für mich immer Bewegung. Ich bewegte mch rhythmisch, schwungvoll zum Takt, schnell oder langsam. Doch immer war ich in Bewegung. Jeden Stopp im Tango empfand ich anfangs als ein Nicht-Tanzen. Jede Figur erriet ich mit Leichtigkeit und war schon weg, bevor mein Partner mich durch seine Führung ausdrücklich darum bitten konnte. Ich war leichtfüßig und geschmeidig, anmutig und kreativ, wenn es darum ging, Bewegung zu entdecken.
Dann, eines Tages, stand das Paar plötzlich still. Es war eine andere Stille als bisher. Kein Stoppen, sondern ein in sich schwingendes inneres Bewegen. Ein Verhalten in Erwartung.
Ist ein Paar in Bewegung, so liegt die hauptsächliche Aufmerksamkeit im Beinbereich. Dies wird besonders auffällig bei hohem Tempo der Bewegungsabläufe. In der Stille jedoch sind die Beine plötzlich stumm. Dies hat zur Folge, dass alle Aufmerksamkeit in die Oberkörper wandert und damit die Bedeutung der engen Umarmung wächst. Dies ist der Moment höchster Spannung, auch weil jetzt nichts mehr ablenken kann von dem, was wirklich ist. Die Pause ist „die Sekunde der Wahrheit“, die es auszuhalten gilt.
Was für wunderbare Aspekte bietet diese getanzte Kunstform in all ihrer Vielfalt, die durch philosophische Metaphern und symbolische Übertragung ihren beschreibenden Ausdruck findet.
Gedanken aus:
Tango – Die einende Kraft des tanzenden Eros von Ralf Sartori und Petra Steidl, Buch & Media Verlag
Tango Dimensionen von Nicole Nau-Klapwijk, Kastell-Verlag