»Meine Geschichte wird Sie an Gott glauben lassen«: Mit diesen Worten beginnt der Inder Piscine Molitor Patel, genannt Pi, seine Erzählung; ihm lauscht in der Rahmenhandlung ein kanadischer Schriftsteller auf der Suche nach Inspiration. Der setzt in den 1970er Jahren in Indien ein. Pi lebt mit seiner Familie in einem Zoo, den sein Vater leitet. Die Kinderaugen von Pi verwandeln diesen Ort in ein perfektes Paradies. Hier beginnt bereits die Magie der traumhaften Bildersprache, die Lee für diesen Film geschaffen hat: An seiner Liebe zu Details werden Respekt vor der literarischen Vorlage und tiefes Verständnis für die spirituelle Dimension der Geschichte deutlich.
Zwischen den Tieren, denen der Junge mit Achtung und Freundschaft begegnet, wächst Pi mit der Suche nach Gott auf: Der Hindu lässt sich taufen und tritt auch dem Islam bei – so sehr faszinieren ihn alle Gottheiten und Glaubensrichtungen.
Der Film wird immer wieder durchzogen von der Frage nach Gott und ob nicht alle Religionen zum gleichen Gott führen.
Die Aussage des Films ist, dass Gott letztendlich eine Geschichte ist, die man unterschiedlich erzählen kann, aber zum gleichen Ende führt. Lessing hat es ähnlich mit seiner Ringparabel erzählt, wo Christ, Muslim und Jude sich um den wahren Gott streiten, der aber immer der gleiche ist, nur in unterschiedlichen Avataren auftritt.
In Comics liest der kleine Pi von den Mythen der hinduistischen Götter, in die das Publikum mit herrlichem 3D eintauchen darf: Sie werden später zur Kraftquelle für den Schiffbrüchigen und visuellen Brücke zwischen seinem Innenleben und dem Zuschauer.
Ein bengalischer Tiger im Zoo fasziniert Pi, doch sein Vater erteilt ihm eine unvergessliche Lektion: Raubkatzen seien Todfeinde des Menschen. Als Pi 17 Jahre alt ist, wandert die Familie mit einigen Zootieren nach Kanada aus. Doch der Pazifik-Frachter, auf dem sie die Überfahrt antreten, gerät in einen Sturm und sinkt. Allein Pi kann sich in ein Rettungsboot flüchten; zu seinem Schrecken entdeckt er, dass er es mit dem Tiger teilen muss.
Die beiden kämpfen nun ums Überleben und Pi lernt, mit dem Tiger zurecht zu kommen, dessen Gesellschaft ihn wach und lebendig hält. Hier erlebt man die Magie des Kinos: Wale, die wie Ungeheuer aus den Fluten aufsteigen, einen Schwarm fliegender Fische oder phosphoreszierende Quallen, die das Meer in mystisches Licht tauchen.
Als das Boot eine geheimnisvolle Insel erreicht, die von Erdmännchen bevölkert wird und aus Algen besteht, die sich nachts in fleischfressende Pflanzen verwandeln, wird der Film endgültig zum Bilder-Kosmos voller Wunder. Mit Findigkeit und einem Survial-Handbuch schafft es Pi, allen Naturgewalten zu trotzen: Er wird seine Irrfahrt überleben.
Doch was hat sich in dem Boot wirklich zugetragen? Hat er es tatsächlich mit einem Raubtier geteilt, oder sind wir mit ihm tief in einer Illusion versunken? So wie Krishna in Pis Comics das ganze Universum in seinem Mund verbirgt, packt Ang Lee das ganze Universum in Pis Rettungsboot.
Damit verdichtet er die traumhafte Erzählung zu einem Gottesbeweis, in dem sich allmählich die Grenzen zwischen Himmel und Wasser, Horizont und Meeresgrund, Phantasie und Wirklichkeit, Mensch und Tier auflösen. Alles wird zu Metaphern, die vom Göttlichen erzählen. Und von der menschlichen Natur, wenn unser Überleben auf dem Spiel steht und wir uns alle in Raubtiere verwandeln. »Das Leben ist ein Akt des Loslassens«, heißt es an einer Stelle im Film.
»Ist die Geschichte wahr?« zweifeln am Ende des Films die japanischen Versicherungsagenten, die den Überlebenden befragen. Die Abgesandten wollen einen »rationalen« Bericht von Pis Überleben auf See. »Wir wollen keine Erfindungen«, sagen sie. »Wir wollen die nackten Tatsachen.« »Ist es nicht schon so etwas wie eine Erfindung, wenn man in diese Welt blickt?«, fragt Pi. »Die Welt ist nicht nur, wie sie ist. Sie ist, wie wir sie verstehen, oder?« Am Ende gibt Pi ihnen eine »vernünftige« Erklärung für sein Überleben, die sie zufriedenstellt. Ähnlich, aber doch ganz anders. Grausamer, nur mit überlebenden und dann getöteten Menschen, ohne Tiere.
Das hebräische Wort für das Zusammenziehen Gottes ist »Tsimtsum« – der Name des Schiffes von Pi! Das ist kein Zufall. Die Versenkung der Tsimtsum wirft das Leben von Pi ins Chaos und entreißt ihm grausam seine Familie und Kindheit. Allein gelassen, steht er vor der Wahl: die Welt als einen zufälligen, grausamen Ort des Leidens zu betrachten oder aber die »bessere Geschichte« zu sehen, eine Welt von Bedeutung, Liebe und Wundern. Die Wahl liegt bei uns: nur die Schmerzen und Leiden dieser Welt zu sehen oder den tieferen Sinn des Ganzen zu entdecken.
Am Ende fragt er: »Und welche Geschichte gefällt ihnen besser?« Schließlich ergänzt er das irritierte Schweigen der Agenten mit einer rätselhaften Pointe: »Und genauso ist es mit Gott.«