Somit verbindet er die drei Ebenen Himmel, Erde und Unterwelt. Das ist die vertikale Form des Weltenbaums, der etwa auch der biblische Baum der Erkenntnis zuzurechnen ist. In der anderen, der horizontalen Form ist der Baum in die Mitte der Welt gepflanzt und bildet hier, bewacht von erhabenen geistigen Wesen, die Quelle allen Lebens, wie etwa der Baum des Lebens in der Bibel. Die beiden Paradiesesbäume erscheinen dadurch als zwei unterschiedliche Aspekte des einen Weltenbaumes.
Alle Welten wurden durch den vertikalen Weltenbaum miteinander verbunden. Unterschiedlich war jedoch die Vorstellung, wieviele es davon gibt. Von drei (Himmel, Erde, Unterwelt) bis hin zu beispielsweise neun Welten (Germanen). Manche Völker stellten sich auch vor, dass seine Spitze bis zum Polarstern reicht.
In verschiedenen Kulturen wurden unterschiedliche Baumarten mit dem Weltenbaum verbunden, z.B. Birke, Eiche oder Esche.
In der Regel bevölkern mythische Tiere den Weltenbaum. Bei indogermanischen Völkern sitzt häufig ein Adler in der Krone und eine Schlange befindet sich unten am Baum. In der indischen, germanischen und slawischen Mythologie herrscht Streit zwischen diesen beiden Tieren.
In den meisten alten Kulturen und Religionen wurden Bäume oder Haine als Sitz der Götter oder anderer übernatürlicher Wesen verehrt.
So spielt der Baum in der Mythologie auch als Lebensbaum (z.B. die Maulbeer-Feige (Sykomore) bei den Ägyptern oder der Baum des Lebens in der jüdischen Mythologie), als Baum der Unsterblichkeit (der Pfirischbaum in China) oder als Symbol des Erwachens im Buddhismus (der Bodhibaum) eine Rolle. In der babylonischen Mythologie erstreckt Xixum seine Zweige bis in den Himmel, während seine Wurzeln tief in der Unterwelt sind. Sein Stamm symbolisiert die Verbindung der Sphären.
Im Schamanismus spielt der Weltenbaum eine große Rolle. Zum einen ist er das Zentrum der Welt und als solches das Zentrum der Schöpfung, zum anderen verbindet er die reale Welt mit den anderen Welten. Über den Weltenbaum kann der Schamane mit dem Schöpfungszentrum Verbindung aufnehmen und in die Reiche der Geister und Götter reisen. Zuweilen wird diese Verbindung zwischen den Welten auch durch einen Fluss gekennzeichnet. Dann reist der Schamane bei seinem Seelenflug in einem Boot über diesen Fluss in die Geisterwelt.
Der Weltenbaum dient auch als Ruhestätte verstorbener Schamanen, von der aus die Seele den Körper verlässt, um in das Reich der Geister zu gelangen.
Dieses Konzept wird von Gustav Klimts als Teil eines Wandgemäldes dargestellt. Im Gesamtzusammenhang ist Klimts ‚Lebensbaum‘ im Speisesaal des zwischen 1905 und 1911 von Josef Hoffmann errichteten Stoclet-Palais in Brüssel zu sehen, der ehemaligen Privatvilla des Ingenieurs und Bankiers Adolphe Stoclet. Es ist seine einzige Landschaft, die er während seiner „Goldenen Periode“ erstellt. Klimt verwendete in seiner Technik Ölmalerei mit Goldfarbe bzw. Blattgold um überaus luxuriöse Kunstwerke zu erschaffen.
Den Lebensbaum illustriert Klimt im Jahr 1905 sehr kühn und originell. Die wirbelnden Spiralen erzeugen eben diese mythische Symbolik, die auf die Ewigkeit des Lebens hinweisen. Die Drehungen, Verschraubungen und Wellen ergeben ein Gewirr von starken Ästen, lange Reben und dünnen Fäden – ein Ausdruck der Komplexität des Lebens. Mit seinen zum Himmel strebenden Zweigen und die tief in die Erde reichenden Wurzeln verbindet auch Klimts Baum des Lebens jene beiden Bereiche, die spirituelle und materielle Ebene, die in vielen Kulturen, Religionen und Ideologien wiederkehren. Er schafft darüber hinaus eine weitere Verbindung in die Unterwelt, was bedeutet, das er letztendlich einen Determinismus über jedes Lebewesen versinnbildlicht, welches geboren wird, wächst, und wieder in die Erde zurückkehrt.
Die beinahe hypnotische Wirkung, die von den spiralförmig zusammengerollten Ästen ausgeht erwecken den Eindruck, der Baum blicke einen aus zahllosen Augen an. Bei näherem Hinsehen hat Klimt auch tatsächlich Darstellungen von Augen in den Baum eingearbeitet: eher abstrakt in schwarzweißen Farbflächen des Stammes, konkreter und in ägyptisch anmutender Formgebung (Horusaugen) auf den schaufelförmigen Blättern des Baums.
Dieses Bild entführt den Betrachter hinein in eine magische Welt voller Mythen und Symbole. So zieht der schwarze Vogel in allem leuchtend Buntem und Goldenen den Blick auf sich. Er steht in vielen Kulturen als „Memento mori“ für den Tod selbst, besonders als Horusfalke in der Kunst der altägyptischen Zeit. Klimt setzte sich zur Entstehungszeit des Bildes auch in anderer Weise mit altägyptischer Kunst auseinander,. Hier dürften diese Motive primär dazu dienen, die übermächtige Ewigkeitsvorstellung der ägyptischen Kultur hereinzuzitieren und den Baum damit ins Zeitlose zu heben.
Auch die Dualität zwischen dem Männlichen und Weiblichen wird mit diesem Bild assoziiert. So stehen Nahrung, Pflege und Wachtum für das Feminine im Lebensbaum, die phallische Übertragung für das Maskuline – aus deren Vereinigung entsteht neues Leben.
Eine andere Interpretation ist die Verbindung zwischen Weisheit, Schönheit und Stärke in diesem Motiv. Der gen Himmel wachsende Lebensbaum steht für das Verlangen und die Sehnsucht des Menschen nach etwas Unerreichbarem, wobei seine Wurzeln ihn in der Erde halten.
Alles Leben ist Teil eines übergeordneten Ganzen. Mit dem Auge hat Klimt ein einfaches Motiv gefunden, das unmittelbar als ein Zeichen für Leben einleuchtet, und hat dieses in und auf seinem Baum verteilt. Doch das Leben ist nicht etwas dem Baum Fremdes, das sich in ihm niedergelassen hat wie ein Schwarm Vögel, der Baum selbst ist Leben, wie aus seinen blickenden Ästen erfahrbar wird — Leben ist sich selbst genug, voraussetzungslos und unmittelbar gegeben.